Die Gründung einer neuen wissenschaftlichen Fachzeitschrift ist nur dann einer eigenen Begründung bedürftig, wenn der Bedarf nicht manifest ist. Bei Heinrich Seuse im Besonderen und der Deutschen Mystik im Ganzen dürfte dieser Bedarf aber offensichtlich sein, gibt es doch kein wissenschaftliches Periodikum, das genau diese sachlich und wirkungsgeschichtlich höchst bedeutsame Tradition im deutschsprachigen Geistesleben behandelt. Kenner der wissenschaftlichen Szene in diesem Bereich werden gegen diese Behauptung vielleicht einwenden, dass mit dem von führenden Vertretern der Meister-Eckhart-Gesellschaft herausgegebenen Meister-Eckhart-Jahrbuch doch bereits ein solches Publikationsorgan vorliegt, das die Schaffung eines weiteren dieser Art überflüssig macht.
Demgegenüber scheint es mir jedoch geboten, Folgendes geltend zu machen: Der Fokus des Meister-Eckhart-Jahrbuchs ist nahezu ausschließlich auf Eckhart selbst ausgerichtet, und das mit gutem Recht: Gebührt doch Meister Eckhart als dem unbestrittenen Haupt und der Zentralfigur der Deutschen Mystik auf Grund der Komplexität seines Werkes, der einzigartigen Tiefe seiner tragenden Gedanken wie überhaupt des enormen Schwierigkeitsgrades des intellektuellen und sprachlichen Anforderungsprofils seiner Texte von den drei Vertretern der sogenannten Deutschen Mystik (Meister Eckhart, Heinrich Seuse, Johannes Tauler) zweifelsohne die größte Aufmerksamkeit der gelehrten Forschung. Von seinen beiden Schülern Seuse und Tauler dürfte ihm sowohl an spekulativer Kraft als auch an gedanklicher und sprachlicher Kreativität und Originalität der zuerst genannte am nächsten stehen. Seuses im Gefolge von und unter häufigem Rückbezug auf seinen geistlichen Lehrer Meister Eckhart entwickelte Form christlicher Mystik ist von der Forschung längst als eine außerordentlich reiche und schöne Orchestrierung tiefster spiritueller Erfahrungen erkannt und ausgelegt worden, die ein ungewöhnlich feines Beobachtungs- und Empfindungsvermögen, einen großen intellektuellen Scharfsinn und ein erstaunlich hohes Maß an sprachbildnerischem, poetischem Talent seines Autors erkennen lässt. Man lasse sich von der Unzeitgemäßheit mancher bisweilen süßlich und naiv anmutender sprachlicher Ausdrucksweisen in den Werken Seuses nicht täuschen bzw. abschrecken: Seine spirituellen Einsichten sind für jedes ernsthafte Bemühen um eine zeitgerechte Form glaubwürdigen Christseins nicht nur von bleibender Bedeutung, sondern auf Grund ihrer besonderen Aufmerksamkeit für die humane Dimension religiösen Lebens gerade in unserer Gegenwart von großer Aktualität.
Aus diesem Grund hat im Suso-Haus in Überlingen als dem mutmaßlichen Geburtsort Seuses und dem höchstwahrscheinlichen Geburtsort seiner Mutter im Juni 2007 eine überwiegend in Konstanz und Überlingen ansässige Personengruppe einen Verein gegründet, der das geistige Erbe Seuses bewahren und aktualisieren möchte. Als ein wissenschaftliches Publikationsorgan dieses Vereins des Gedenkens an den Mystiker und Dichter vom Bodensee, Überlingen, versteht sich das vorliegende Jahrbuch, das der Erforschung von Seuses Spiritualität im Kontext insbesondere der Deutschen Mystik, aber auch der allgemeinen Kulturgeschichte seiner Zeit dienen und deshalb für einen möglichst interdisziplinären Zugang zu seinem Gegenstand offenstehen möchte. Diese Entstehungsgeschichte des Jahrbuchs spiegelt sich in seinem Aufbau wider:
Nach den außerordentlich freundlichen und ermutigenden Grußworten von hoch angesehenen Persönlichkeiten des kirchlichen (darunter auch des Ordens-) und des öffentlichen Lebens, für die ich mich an dieser Stelle bei ihren Autoren auf das herzlichste bedanken möchte, folgen die im engeren Sinne wissenschaftlichen Abhandlungen. Dass ich für diese mit Prof. Dr. Walter Senner OP (Rom) und Silvia Bara Bancel OP (Madrid) zwei Seuse-Forscher gewinnen konnte, die selbst auch Ordensgeschwister Heinrich Seuses sind, freut mich ganz besonders. Ihre Beiträge über die Geschichte der Konzeption einer ganzheitlichen Wissenschaft von Albertus Magnus, die Deutschen Dominikanerschulen bis hin zu Heinrich Seuse (Walter Senner) sowie über die mystische Anthropologie Heinrich Seuses (Silvia Bara Bancel) legen das Verhältnis zwischen theologischer Wissenschaft und gelebter Spiritualität (Senner) bzw. das mystische Menschenbild bei Heinrich Seuse (Bara Bancel) in einem größeren geistesgeschichtlichen Kontext aus, der Seuses eigene Position markant hervortreten lässt. Für ihre gehaltvollen Beiträge gebührt beiden Autoren mein ganz besonderer Dank. In diesen Dank einschließen möchte ich gerne auch den Autor der dritten Abhandlung, Sean McGrath (Memorial's University, St. John's, Kanada), dessen Beitrag über den Einfluss der Deutschen Mystik, insbesondere Meister Eckharts und, wie hier erstmals gesehen und gezeigt wird, wahrscheinlich auch Heinrich Seuses, auf zentrale Elemente der berühmten existenzialanalytischen Daseinsauslegung Martin Heideggers in dessen Hauptwerk Sein und Zeit eine Forschungsnovität ganz besonderer Art präsentiert. Dieser Beitrag erschließt einen bislang noch ganz unbekannten Teilbereich der neuzeitlichen Wirkungsgeschichte der mystischen Spiritualität Heinrich Seuses und dürfte nicht nur für die Seuse-, sondern auch für die Heidegger-Forschung von seltenem Wert sein.
Dafür, dass mit diesem Jahrgang das längerfristig angelegte Heinrich-Seuse-Jahrbuch erstmals erscheinen kann, gebührt Vielen mein aufrichtiger Dank.
An erster Stelle möchte ich den beiden Vorsitzenden des Seuse-Vereins, Bruder Jakobus Kaffanke OSB und Michael Stoll, ganz herzlich danken für ihre vielfältige Unterstützung und für das Vertrauen, das sie mir mit ihrer Beauftragung zur Herausgabe dieses Jahrbuches für den Seuse-Verein entgegenbringen. Sehr herzlich danken möchte ich dem LIT-Verlag und hier besonders dessen Chef-Lektor Dr. Michael J. Rainer für sein großes, freundliches und wohlwollendes Engagement in der verlegerischen Betreuung dieses Publikationsorgans.
Einen ganz herzlich empfundenen Dank möchte ich an dieser Stelle meiner Mitarbeiterin, Frau Dr. Sigrun Jäger, aussprechen für Ihre äußerst sachkundige und tatkräftige Mithilfe bei der zeitraubenden und mühevollen redaktionellen Bearbeitung der einzelnen Beiträge sowie des Gesamtmanuskripts dieses Jahrgangs. In diesen Dank einschließen möchte ich gerne auch meinen Mitarbeiter, Herrn cand. phil. Jochen Oertel, für seine verlässlichen Formatierungsarbeiten an dem Manuskript dieses Jahrgangs.
Schließlich bleibt mir noch, diesem ersten Jahrgang des Heinrich-Seuse-Jahrbuchs sowie dem ganzen Unternehmen dieses Jahrbuchs eine zahlreiche und wohlwollende Leserschaft innerhalb und außerhalb des wissenschaftlich-akademischen Bereichs zu wünschen. Denn das Heinrich-Seuse-Jahrbuch möge für jeden an den Themen christlicher Mystik und Spiritualität Interessierten eine Fundgrube werden, die nicht nur seiner intellektuellen, sondern auch seiner spirituellen Bereicherung dient.
Gewidmet aber sei dieses Jahrbuch - wie könnte es anders sein - dem, dessen Namen es in seinem Titel trägt.
Freiburg, den 17. September 2008 Markus Enders