0. Einführung
Die Konstanzer Zeit ist für die geistliche Biographie, für den spirituellen Reifungsprozess Heinrich Seuses von entscheidender lebensgeschichtlicher Bedeutung gewesen. Diese These soll im Folgenden an der Scharnier- und Schlüsselfunktion erläutert werden, welche die mystagogische Tugend der Gelassenheit in Seuses mystischer Spiritualität besitzt. Diese radikale, zu einer mystischen Existenzweise führende, d.h. mystagogische Form von Gelassenheit aber hat Seuse während seiner Zeit als Mitglied des Konstanzer Dominikanerkonvents verstehen und leben gelernt. Im Einzelnen nachgewiesen werden soll diese These im Hauptteil der folgenden Überlegungen an Seuses Büchlein der Wahrheit als auch und insbesondere an Seuses Vita, seiner autobiographischen Gleichnisrede vom mystischen Weg, und schließlich auch an einem Passus aus seinem Büchlein der Ewigen Weisheit.
Für die Durchführung dieses Nachweises sind jedoch zwei Vorüberlegungen erforderlich. Die erste ist rein historischer Natur und betrifft die Rahmendaten von Seuses Konstanzer Zeit. An zweiter Stelle soll eine kleine Einführung in das Verständnis mystischer Gelassenheit bei Meister Eckhart als Seuses einflussreichstem geistlichen Lehrer gegeben werden, um später im Hauptteil zeigen zu können, dass Heinrich Seuses Verständnis der bei ihm, wie gesagt, zentralen mystagogischen Tugend der Gelassenheit in allen wesentlichen Punkten von Meister Eckhart inspiriert worden ist. Dass es sich bei der mystagogischen Tugend der Gelassenheit um eine zentrale Lehre der sog. Deutschen Mystik handelt, soll auch ein kurzer Seitenblick auf die Rezeption von Eckharts Lehre der Gelassenheit bei dem zweiten großen Eckhart-Schüler, bei Johannes Tauler, zeigen.
1. Rahmendaten der Konstanzer Zeit Heinrich Seuses
Die Konstanzer Zeit Heinrich Seuses begann vielleicht schon mit seiner Geburt am Benediktstag, dem 21. März, wahrscheinlich 1297 und nicht bereits 1295.1 Eine Geburt Seuses in Konstanz ist allerdings nicht gesichert, da gute Gründe auch dafür sprechen, dass das Suso-Haus in Überlingen Seuses Geburtshaus und Wohnstätte bis zu seinem Ordenseintritt gewesen sein könnte. Spätestens jedoch mit seinem Eintritt in das Inselkloster der Dominikaner im Jahre 1310, als erst Dreizehnjähriger, begann Seuses Konstanzer Zeit. Seine Zugehörigkeit zum Konstanzer Dominikanerkonvent erstreckte sich von 1310 bis zu seiner Versetzung in den Ulmer Dominikanerkonvent 1347/48, erfuhr aber einige Unterbrechungen, so dass sie im Ganzen wahrscheinlich nicht mehr als ca. 20 Jahre dauerte. Diese Unterbrechungen waren im Einzelnen sehr wahrscheinlich sogar schon sein zwei- bis dreijähriges Studium der philosophia rationalis, d.h. der aristotelischen Logik, „in einem Konvent der Natio Suebica oder Alsatia“2, sicher aber sein studium particulare, d.h. sein theologisches Studium der Bibel und der Sentenzen des Petrus Lombardus, das er aller Wahrscheinlichkeit nach in Straßburg von ca. 1319 bis 1321 absolvierte. Bereits dort, und nicht erst am Kölner Generalstudium, dürfte er Meister Eckhart sowie den Ordensbruder Johannes Futerer den Älteren kennengelernt haben, mit dem er eine tiefe, lebenslange Freundschaft schloss. Diese Annahme können wir aus dem Umstand schließen, dass Seuse im 6. Kapitel seiner Vita Johannes Futerer einen „heilig bruder“ nennt und zusammen mit Meister Eckhart in einer Vision nach deren Tod erscheinen lässt.3 Eine weitere mehrjährige Unterbrechung seiner Konstanzer Zeit ist sein Aufenthalt am Studium generale der Dominikaner in Köln zwischen 1323/24 und 1327, wo sich sein Schülerverhältnis zu Meister Eckhart wesentlich vertieft haben dürfte, unabhängig davon, ob Meister Eckhart dort selbst lehrte oder „auch während seiner Kölner Zeit mit den innerkirchlichen Auseinandersetzungen um die Rechtgläubigkeit der Spiritualität der auch in Köln ansässigen Beginen und Begarden sowie der Lehre der sog. Sekte vom Freien Geist befasst war“4; eine dritte oder vierte Unterbrechung der Konstanzer Zeit Seuses ist das Exil seines Konvents während des Interdikts Ludwigs des Bayern im Machtkampf zwischen ihm und dem Papst zwischen ca. 1338 und 1346. Dieses Exil verbrachte er mit seinem Konvent wahrscheinlich entweder bei den Dominikanerinnen in Katharinental bei Dießenhofen (am Rhein) oder in dem vor den Toren von Konstanz gelegenen Schottenkloster.
Zieht man diese drei mehrjährigen Abwesenheiten Seuses in Konstanz ab, so ergibt sich eine Aufenthaltsdauer Seuses im Inselkloster in Konstanz von ca. 23 Jahren. Es kommt hinzu, dass Seuse ungefähr ab 1336, nämlich seit der später noch zu erläuternden Kehre oder Wende seines geistlichen Lebens in seinem 40. Lebensjahr, eine aktive Missions- und Seelsorgetätigkeit vor allem in der Rheingegend, im Elsass und in der Schweiz unternahm, so dass wir eine tatsächliche Verweil- oder Aufenthaltsdauer Seuses im Konstanzer Inselkloster von insgesamt ca. 20 Jahren annehmen können.5 Seine anschließende Zeit im Dominikanerkonvent in Ulm bildet mit ungefähr knapp 20 Jahren bis zu seinem Tod am 25. Januar 1366 den zweiten räumlichen Schwerpunkt seines Ordenslebens.
2. Meister Eckhart – Wortschöpfer und Bedeutungsstifter der Gelassenheit
Meister Eckhart ist in seinen deutschen Predigten und Traktaten meines Wissens der Erste, der in deutscher Sprache dem biblischen Imperativ, alles – um der Nachfolge Christi willen – zu lassen (nach Mt 19,29 und Lk 5,11), eine dezidiert mystagogische Bedeutung verleiht: Denn während der Bezugsgegenstand des biblisch geforderten Alles-Lassens gemäß dem buchstäblichen Sinn dieser Schriftstellen der Besitz und die familiären Sozialbeziehungen der Jünger sind, die Jesus in seine Nachfolge beruft, verallgemeinert und verinnerlicht zugleich Meister Eckhart diesen biblischen Imperativ, indem er das von den Jüngern zu Verlassende mit allen geschaffenen Dingen überhaupt gleichsetzt und das Verlassen nicht als einen äußeren Rückzug von den Bindungen an diese Welt, sondern als eine noch genauer zu bestimmende innere Loslösung des Menschen von allem versteht, was nicht Gott selbst ist.6 Dabei gebraucht Eckhart das erstmals von ihm, und zwar in seinen „Reden der Unterscheidung“, die er als Prior des Dominikanerklosters in Erfurt wahrscheinlich um 1303 an seine Novizen gerichtet hat, geprägte abstrakte Nomen „gelâzenheit“ nur an einer einzigen Stelle, wo er ausdrücklich „von wârer abegescheidenheit oder von gelâzenheit“7 spricht. Ob Eckhart hier „abegescheidenheit“ und „gelâzenheit“ synonym gebraucht, lässt sich von dieser Stelle her zwar nicht eindeutig entscheiden; Adelheid Bundschuh hat aber in ihrer 1990 erschienenen Dissertation über die Bedeutung der Gelassenheit bei Eckhart8 in Bezug auf das semantische Wortfeld beider Ausdrücke bei Eckhart gezeigt, dass sie grundsätzlich dasselbe bezeichnen, nämlich den inneren Zustand des von allem Nicht-Göttlichen unbewegten Menschen. Eckhart bevorzuge allerdings den Ausdruck der „Abgeschiedenheit“, weil er diesen Zustand prägnanter zum Ausdruck bringe als der der „Gelassenheit“ und stets auf Transzendenz bezogen und daher von Eckhart auch auf Gott selbst angewandt worden sei, wofür natürlich Eckharts Traktat „Von abegescheidenheit“ die häufigsten und klarsten Belegstellen bietet.9
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Den vollständigen Text finden Sie im Jahrbuch Heinrich Seuse 2009