Seuses drei Monographien und einen Briefkorpus umfassendes „Exemplar" (eine Ausgabe seiner deutschsprachigen Schriften letzter Hand, ca. 1362/63 in Ulm zusammengestellt, siehe Link „Biographie") schließt erstens das als eine indirekte Verteidigung der mystischen Lehre Meister Eckharts konzipierte „Büchlein der Wahrheit" (zwischen 1327 und 1329 verfaßt) ein, in dem Seuse die theoretische Seite seines mystischen Wissens darlegt. Hierzu gehören:

1.) Die metaphysischen Voraussetzungen der mystischen Einung als der innerzeitlichen Erfahrung einer unmittelbaren Anwesenheit des Mystikers bei Gott;

2.) die Struktur des zu beschreitenden Weges, der zu dieser Erfahrung hinführt und auf dem die vom Menschen zu erwerbende Gelassenheit als das Lassen des eigenen und das Geschehenlassen des göttlichen Willens eine Schlüsselrolle spielt;

3.) die christologische Vermittlung der mystischen Erfahrung sowie ihr Inhalt;

4.) und schließlich die Wirkung der mystischen Erfahrung als die Herrschaft des göttlichen Willens im Leben eines wahrhaft gelassenen und daher mystisch begnadeten Menschen.

Zweitens illustriert S. in seiner autobiographischen „Vita" sowie drittens in seinem „Büchlein der ewigen Weisheit" (zwischen ca. 1328 und 1330 entstanden) in exemplarischer Absicht die praktische Seite seines mystischen Wissens, auf welche auch die Spiritualität des frühen christlichen Mönchstums einen bemerkenswerten Einfluß ausgeübt hat: Die lebensgeschichtliche Beschreibung seines eigenen Weges zu einer mystischen Lebensform im ersten Teil der „Vita"; seine exemplarische Hingabe für das Heil anderer am Beispiel seines Wirkens als Seelenführer Elsbeth Stagels im zweiten Teil der „Vita". Darüber hinaus führt S. im „Büchlein der ewigen Weisheit" eine betrachtende Aneignung der Leidenshaltung Jesu Christi als Mitleiden mit Christus (compassio Christi) durch. Eine erweiterte Neuredaktion dieses „Büchleins" stellt das „Horologium Sapientiae" (zwischen 1331 und 1334 verfaßt), Seuses einzige lateinisch sprachige Schrift, dar, die insbesondere in der „Devotio Moderna" sowie in der „Imitatio Christi" des Thomas von Kempen eine bedeutende Wirkungsgeschichte entfaltet hat.

Charakteristisch für Seuses Mystik im Ganzen und darin exemplarisch für christliche Mystik überhaupt ist deren dreifache Christusförmigkeit: Bezüglich der Voraussetzungen der mystischen Einung als Nachahmung (imitatio) des Menschseins, insbesondere der Gelassenheit Christi, verstanden als seine Selbsthingabe an den Willen des (göttlichen) Vaters; bezüglich des Inhalts der mystischen Erfahrung als Widerspiegelung der Gottheit Christi in der Einung mit dem alleinheitlichen Selbstbewußtsein Gottes; und bezüglich der Wirkung dieser Erfahrung als Widerspiegelung des Gott-Mensch-Seins Christi, sofern der wahrhaft gelassene Christ das göttliche Leben Christi als Wirkprinzip seines menschlichen Handelns und Sichverhaltens verborgen in sich trägt.


W u. a. Ausgg. : H. Seuse. Deutsche Schriften, hg. v. K. Bihlmeyer, 1907, Neudr. 1961; H. Seuses Horologium Sapientiae, hg. v. Pius Künzle OP (Spicilegium Friburgense 23), 1977; Heinrich Seuse. Das Buch der Wahrheit, hg. v. R. Blumrich/L. Sturlese, Mittelhochdeutsch-Deutsch, 1993.

Lit.: H. Seuse. Studien zum 600. Todestag 1366-1966, hg. v. P. Ephrem M. Filthaut OP, 1966; M. Enders, Das mystische Wissen bei Heinrich Seuse, 1993; Heinrich Seuses Philosophia spiritualis, hg. v. R. Blumrich/Ph. Kaiser, Wiesbaden 1994; A. M. Haas, Kunst rechter Gelassenheit. Themen und Schwerpunkte von Heinrich Seuses Mystik, 1995; P. Ulrich: Imitatio et configuratio. Die philosophia spiritualis Heinrich Seuses als Theologie der Nachfolge des Christus passus, 1995; Heinrich Seuse - Diener der Ewigen Weisheit, hg. v. J. Kaffanke, 1998; Vf.-Lex. d. MA2; Killy